Frischs Fragen

buchBoomtown 03/2002

Vom 4.Februar 2002

Frischs Fragen

Auf dem „Schreibtisch“ meines Computers liegt ein Programm mit Namen „Eightball“. Sein Icon sieht aus wie die Billardkugel „Acht“ und seine simple Funktion besteht darin, Antworten auf all meine Fragen zu geben. Ich muss lediglich darauf klicken und erhalte sinnreiche Auskünfte wie „Ganz sicher.“ oder „Das würde ich nicht wagen.“ oder „Frag Sybille.“

Ist man nicht im Besitz eines Computers, kann der gleiche Dienst durch ein Buch erfüllt werden, in dem mehr oder weniger intelligente Aussagen versammelt sind. Wieder anders veranlagte Menschen begeben sich aus diesem Anlasse zu einem Werktätigen der astrologischen oder sonstig esoterischen Industrie.

Da es mir in dieser Woche – wieder einmal – an einem hinreichend erquicklichen Kolumnen-Thema mangelte und weder Eightball noch ein Buch weiterzuhelfen in der Lage waren, kam es meiner Muse in den Sinn, mir einen Klassiker auf den Schreibtisch flattern zu lassen, der keinerlei Antworten, sondern „nur“ Fragen beinhaltet. Die Alt- und Neu-Achtundsechziger unter uns wissen, welches Buch dies ist: Max Frischs „Fragebogen“. Darin habe ich willkürlich eine Seite aufgeschlagen und eine beliebige Frage ausgewählt. Es traf zufälligerweise die erste Seite mit Frage Eins. (Manchmal kann man’s eben nicht beeinflussen.) „Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?“ Antwort: „Nein.“

Nächste Frage: „Warum? Stichworte genügen.“

Es ist mir natürlich schwer vorstellbar, dass mich überhaupt irgendetwas interessiert, wenn ich nicht mehr bin. Möglicherweise wird mein Astralleib noch das eine oder andere Interesse haben, aber welcher physikalische Teil von mir sollte die Aufgabe des Interessiertseins übernehmen?

In Ordnung, jetzt mal ernsthaft, wahrscheinlich hat Onkel Max es ja anders gemeint: Aber eine so tolle Vorstellung, dass sich da weiterhin wildfremde Menschen ernähren, begehren und vermehren, also so umwerfend finde ich das nicht. Oftmals erscheint mir die Erde just dort ein ganz nettes Plätzchen, wo sich keine anderen Leute aufhalten.

Im Übrigen ist damit zu rechnen, dass ich bereits kürzeste Zeit nach meinem Ableben eher zur Erde gerechnet werden kann als zu den Menschen. Darum wird mir dann wohl mehr die Erde an meinem lehmigen Herzen liegen. Ich kann schließlich nicht behaupten, dass die Menschen der Erde gut getan hätten, wenn man einmal von ihrer Funktion als Dünger absieht.

Frage hinreichend beantwortet? Dann überspringen wir an dieser Stelle 272 weitere und kommen zur letzten Frage im letzten Fragebogen: „Wieso weinen die Sterbenden nie?“

Zunächst einmal: wer sagt, dass die nie weinen? Doch werde ich wahrscheinlich auch lachen, wenn ich da so auf dem Totenbett herumlümmele. Aus dem Wohnzimmer höre ich Tante Brunhild in den Schubfächern nach dem Testament wühlen. Menschen, die ich in den letzten zwanzig Jahren nie gesehen habe und nun behaupten, meine Enkel zu sein, schnäuzen künstlich erzeugte Tränen ins Taschentuch. Der Opa aus der Wohnung unter mir, der sich immer aufgeregt hat, wenn ich mit dem Krückstock den Takt zu seiner Lieblings-CD schlug, zeigt dem potentiellen Nachmieter die schlecht gelüftete Wohnung. Tochter Sieglinde, welche schon früher besonders eifrig war, macht mir ein letztes Mal ein schlechtes Gewissen. Sie hat bereits bei Grieneisen einen Kostenvoranschlag eingeholt. Doch wirklich tangieren wird mich dies alles nicht mehr, ich bin fertig. Nun sind die anderen dran mit Welt retten. Ich habe genug Müll getrennt.

Das wird schön: Kein Ein- und Ausatmen den lieben langen Tag, kein Warten auf Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Straßenbahn. Ende mit „Hab ich auch das Gas in der Küche ausgedreht?“ Harry Potter Teil Zwölf (Jaja, den wird’s geben!) kann mir gestohlen bleiben. Jetzt wird mal ein paar Jahrzehnte lang im Boden gelegen und gemodert.

Wenn ich viel Glück habe, kommt in Jahrtausenden ein Archäologe vorbei, wäscht mir die zu Erde gewordenen Augäpfel aus der Stirnhöhle und verkauft meinen Schädel an das nächstbeste Heimatmuseum. Dann glotze ich montags bis freitags von neun bis achtzehn Uhr gelangweilte Schulklassen an und wenn mir ein Mädel sympathisch ist, klappere ich mit den Zähnen. Ich kann’s kaum erwarten.

Und wenn ihr jemanden gern habt, nehmt euer Herz in beide Hände und macht was draus.

Eine schöne lebendige Zeit wünscht Leovinus

(2002)

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